Himmel über Paris (Brief an drei verirrte Seelen)
Im Gedenken an die Opfer der Terroranschläge vom 7.1.2015
Ich weiß nicht, wo ihr gerade seid. Ob ihr, während ich dies schreibe, von einer schier unübersehbaren Schar Jungfrauen becirct werdet. Oder ob ihr euch ganz ohne Gesellschaft ungläubig die Augen reibt, angesichts einer riesigen Schale Obst – es wäre ein hübscher Beweis dafür, dass nicht alle Versprechen so gemeint sind, wie sie gerne verstanden werden.
Ich hoffe aber, ihr hattet drei Logenplätze mit bester Sicht auf die zahllosen Menschen, die vor ein paar Wochen in Paris gezeigt haben, wie stark geeint sie stehen gegen eure Schändlichkeiten. In deren Herzen der Samen des Hasses, den ihr mit eurem feigen Anschlag gegen Zeichenstift und Feder säen wolltet, niemals aufgehen geschweige denn Frucht tragen wird.
Weil wir schon bei Fehleinschätzungen sind: Der Plan, ein Medium auszulöschen, weil es nach eurem Ermessen den Propheten Mohammed beleidigt hat, erwies sich als der größte Rohrkrepierer aller Zeiten. Die Zeitung Charlie Hebdo hatte bis vor kurzen eine Auflage von sechzigtausend Stück; in einem Land mit knapp 66 Millionen Einwohnern nicht der Rede wert. Von der Ausgabe nach eurem vermeintlichen Husarenstück wurden sieben Millionen gedruckt. Und hier ist nur von der ersten Auflage die Rede, wohlgemerkt. Damit hat sich euer Feind, anstatt der Vernichtung anheim zu fallen, mehr als verhundertfacht. So etwas nenne ich eine gelungene Operation!
Darf ich euch zwei Fragen stellen? Wie steht es um den Charakter eines Propheten, der sich von einer Zeichnung – wie provokant sie auch sein mag – beleidigen lässt? Wie schwach ist euer Gott, von dem ihr gleiches sagt? Meinen Gott ficht so etwas nicht an. Er ist beständig in seiner Liebe zu mir, nimmt alles hin, was ich ihm entgegenschleudere. Ich machte ihm Vorwürfe, die meinen besten Freund vertrieben hätten. Mein Gott aber ist bei mir geblieben.
Jetzt verrate ich euch etwas: Gerüchte besagen, wir glauben an den gleichen Gott! Ihr drei, ich, Charb und seine Kollegen bei Charlie Hebdo, Europäer und Araber, Juden, Christen und Moslems, überhaupt alle Menschen auf der Welt! Ist das nicht wunderbar?
Ich sehe ein Stirnrunzeln im Himmel über Paris. Das kann nicht zusammengehen, denkt ihr wohl, wenn euer Gott beleidigt ist und meiner nicht. Nie und nimmer sprechen wir vom gleichen Gott.
Meine Theorie dazu ist vielleicht abwegig, aber ich bringe sie trotzdem: Irgendwann hat jemand – ein Lehrer, ein Imam, ein guter Freund – euch erzählt, euer Gott wäre beleidigt, wenn er diese und jene Dinge sehen muss. Falsche Lebensweisen, kritische Zeichnungen, fremde Religionen. In dem Moment hättet ihr euren Grips anstrengen und euch fragen können: Ist das wirklich so? Doch ihr habt den Worten sofort geglaubt – euer Verstand hatte nicht die geringste Chance herauszufinden, ob ihr selbst auch so denkt. Und nach einer Weile machte es keinen Unterschied mehr, ob euch jemand sagt, Gott sei beleidigt, oder ob es wirklich der Fall ist.
Beleidigungen tun weh, keine Frage; ich habe viele davon erlebt. Sie nahmen nicht den Umweg über Gott, sondern trafen mich direkt. Manche geschahen aus Unachtsamkeit, mit anderen wollte man mich bewusst verletzen. Ich habe alle ertragen, mit Hilfe meines Gottes und vieler Freunde. Und dank einer Gabe, die jeder Mensch beim Betreten dieser Welt in sich trägt. Auch ihr drei habt sie bekommen: das Lachen.
Ihr habt vergessen, wie man lacht. Als Kinder konntet ihr es, da bin ich sicher. Euer Kinderlachen war hell, durchdringend und befreiend, wie jenes aller anderen Kinder auch. Und wieder hat euch jemand gesagt: Lacht nicht! Seht doch, wie schlecht die Welt ist! Und alle anderen sind schuld daran! Damit war der Samen des Hasses in euch gepflanzt.
Euer Gott ist so groß und so gütig und so liebevoll und so wenig beleidigt wie der meine. Ich befürchte aber, ihr würdet ihn nicht erkennen, selbst wenn er direkt vor euren drei Nasen stünde. Denn der Hass hat eure Augen blind, eure Ohren taub und eure Herzen kalt gemacht. Andere zogen diesen Hass in euch heran, bis seine Schwärze alles zudeckte und er reif war für die Ernte. Sie drückten euch Waffen in die Hand, nannten euch eine Adresse in Paris. Blind, taub und kalt seid ihr losgestürmt.
Waffen können Menschen auslöschen, aber keine Geisteshaltung. Sie können Gliedmaßen, Organe verletzen, aber kein Vertrauen in sich selbst, in den Zusammenhalt einer Gemeinschaft, in Gott.
Auch wenn die Menge von Paris schweigend marschierte, drang ihr seelenvoller Ruf millionenfach in den Himmel, verstärkt von zahllosen Herzen auf der ganzen Welt. Keine Waffe, keine Hassrede und keine Beleidigung wird ihn jemals verstummen lassen.
Ich bin das Lachen! Ich bin die Freude am Leben! Ich bin Charlie!
