
EM-Blog VII: Fußball schauen mit Pessimisten (25.6.2021)
Nachdem mich Freund Uwe aus unerfindlichen Gründen nicht gebeten hat, nach Bukarest mitzukommen – mit dem Kernölbotschafter als moralische Unterstützung hätte Marko Nationale seine Top-Chancen aber sowas von sicher verwertet –, musste ich mir zum Daumendrücken für unser Spiel des Jahrhunderts eine andere Location suchen. Nein, falsch; die perfekte Location habe ich in meinem Wohnzimmer samt Flatscreen und Couch, auf der ich ungefragt alle Viere von mir strecken kann. Genauso fraglos ist es aber lustiger, ein entscheidendes Entscheidungsspiel, in dem die eigene Truppe nach Jahrzehnten wieder historisch und heroisch Geschichte schreiben kann, gemeinsam mit einer Runde bedingungslos loyaler und dem gemeinsamen Ziel vollstes Vertrauen entgegenbringender Fans zu verfolgen.
Martin, schauen wir uns das Ukraine-Spiel gemeinsam an?, whatsappe (schön langsam gefällt mir mein hippes Neudeutsch) ich deshalb gleich an die erste mir in Sachen Fußballleidenschaft in den Sinn kommende Person.
Kumm zu mir, daunn samma mehr, whatsappt er mir Sekunden später auf steirisch zurück. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen; also fanden sich am Montag um Punkt 18 Uhr gezählte sieben Personen vor einem Flachbildschirm in Graz ein, neben welchem der meinige wie ein Tablet-PC für die Sakkotasche wirken würde. Dass ich dafür meinen Plüschhasen Archibald auf unserem Sofa zurücklassen musste, war für die knapp zwei Stunden des entscheidenden Entscheidungsspiels (sagte ich das schon?) verschmerzbar.
Und es ging vielversprechend los! Unsere Spieler, endlich in rotweißrot, wie es sich gehört, rannten wie aufgezogen, zwangen die Ukrainer immer wieder zu Ballfehlern. Kein schmerzhaftes Kopfballduell wurde gescheut, keine bis an die Belastungsgrenze der Adduktoren gedehnte Grätsche ausgelassen. In der 21. Minute avancierte der kleine Christoph Baumgartner zum großen Helden: Obwohl er kurz zuvor eine heftige Kopfnuss hatte einstecken müssen, schwindelte er sich bei einem Corner von David Alaba zwischen zwei gelbblaue Abwehrhünen durch und hielt in dem vollen Wissen, demnächst gesandwicht zu werden, kess seine weiße Schuhsohle nach vorne. Diese touchierte den Ball im perfekten Winkel, Torhüter Bushchan hatte nicht den Hauch einer Chance – 1:0 für uns! Wer nun glaubt, mit der Führung im Rücken würde alles leichter gehen, der hat sich noch nie mit der österreichischen Fanseele beschäftigt. Diese lässt sich, wichtige Spiele des Nationalteams betreffend, mit drei Aussagen beschreiben, wogegen die Dogmen des Papstes unverbindlichen Empfehlungen gleichen.
a) Wenn es noch 0:0 steht: „Knapp vor Schluss fressen wir sicher wegen eines blöden Abwehrfehlers ein Tor!“
b) Wenn Österreich 0:1 hinten liegt: „Ich habe immer gesagt, dass wir gegen die Deutschen / Italiener / Franzosen / Engländer (Lieblingsgegner unterstreichen) keine Chance haben! Warum schaue ich mit diesen Drama überhaupt an?“
c) Wenn Österreich 1:0 führt: „Das kann nicht gut gehen! Schon wieder ein Ballverlust von Hinteregger / Dragovic / Alaba / Lainer (den unfähigsten Verteidiger rot durchkreuzen)! Das halten die niemals 70 Minuten durch! Oh mein Gott, ich kann gar nicht hinschauen!“
Angesichts dieser negativen Suderei, die der Chronist länger fortführen könnte, als das Alphabet Buchstaben hat, ist es nicht verwunderlich, dass das Buch Die Angst des Tormannes beim Elfmeter vom österreichischen Nobelpreisträger Peter Handke stammt. Bald wird dieses Standardwerk heimischer Literaturgeschichte um den Bestseller Die Angst des Teamchefs vorm Gewinnen – Die Franco-Foda-Story ergänzt werden. Dabei handelt es sich, soviel kann ich schon verraten, um ein Schlaflied in 13 Strophen, verfasst von Helge Payer.
Aber zurück zum Spiel. Die Erleichterung in unserer Runde über die Führung wich alsbald wachsender Unruhe, nachdem Marko Arnautovic eine hundertprozentige Chance vergeben hatte, und dann gleich noch eine. Angespannte Gesichter rund um mich; niemand wollte die situationstechnisch typische Fußballweisheit von sich geben: Tore, die man nicht schießt, kriegt man! Ich dagegen war ganz entspannt. Der zu unseren Gunsten ablaufende Spielfilm war mir noch vor Baumgartners Geniestreich klar geworden. Die Abwehr stand bombenfest; im Mittelfeld wuselten Laufmaschine Schlager und Feinmechaniker Baumgartner, dass den klobigen Ukrainern Hören und Sehen verging; im Sturm blieb Arnautovic, obwohl heute in der Rolle des Chancentodes, ein ständiger Unruheherd. Die Jetzt-sollten-wir-vielleicht-doch-ein-Tor-schießen-Versuche der Gelbblauen blieben Versuche. Sohin löffelte ich in der Pause zufrieden den äußerst gschmackigen Thunfischsalat, den Martins Mutter Renate für die Runde als Matchzehrung vorbereitet hatte.
Nach Wiederanpfiff änderte sich am Charakter der Begegnung wenig bis nichts. Aus unerfindlichen Gründen stieg jedoch der Nervositätspegel der Fans um mich minütlich an. Jeder misslungene Pass ließ irgendwen scharf die Luft einziehen, jede vergebene Chance ein „Das geht schief, das geht sowas von schief …!“ zwischen gepressten Lippen entweichen. Bald hielt ich dieses Herumnerverln nicht mehr aus und sagte deshalb im Brustton der Überzeugung: „Entspannt euch, das passt schon. Heute gewinnen wir.“
„Und woher weißt du das so genau?“, wollte Renate zwischen zwei hektisch gepafften Zigarettenzügen wissen.
„Ich habe es im Gefühl, ganz einfach.“
„Vorher sagen das alle“, warf ihr Lebensgefährte Karl ein, nicht wenig gereizt. „Nachher, wenn der Bachmann eines seiner halblustigen Dribblings im eigenen Strafraum verhaut und so ein richtiges Eiertor kassiert hat, sind sie schmähstad.“
Doch auch das geschah nicht. Unser Torhüter Daniel Bachmann hielt sogar den Sieg fest, als er reaktionsschnell verhinderte, dass sich Stefan Lainer per Kopfballabwehrversuch in die schon erstaunlich lange Liste der Eigentorschützen bei dieser EM eintrug.
Nach dem Schlusspfiff, als sich die Spieler am Bildschirm in den Armen lagen und wir vor dem Bildschirm gegenseitig abklatschten, konnte ich es mir einfach nicht verkneifen: „Na, was habe ich euch gesagt?“
„Naja, fast wäre es noch schiefgegangen“, grummelte Karl.
„Wir haben ganz schön viel Glück gehabt“, raunte Renate, erleichtert einen tiefen Zug nehmend.
Mit Pessimisten Fußball schauen ist echt die Höchststrafe! Beim nächsten Mal bleibe ich auf meiner gemütlichen Couch; Archibald redet nicht viel, teilt aber wenigstens meinen Optimismus.
Foto des Tages: Für alle die glauben, ich habe meinen Plüschhasen Archibald nur erfunden, weil er mir gut in die Dramaturgie dieses Blogs passt: Voilà, hier ist er, auf meiner Couch.
Song des Tages: Strada del Sole Nach dem Sieg gegen die Ukraine ist vor dem Spiel gegen Italien! Offensichtlich ist das Selbstbewusstsein der Österreicher nicht gerade klein; seit der vierfache Weltmeister als unser nächster Gegner feststeht, läuft dieser Uralthit von Rainhard Fendrich viel öfter auf allen heimischen Radiosendern. Die letzten zwei Verse mögen unser Motto sein!
https://www.youtube.com/watch?v=JiufUNo3mEQ

