Der Kernölbotschafter trifft Señora Corona

Viel mehr als ein Tagebuch

 

18. Mai 2020: Brief an die Herzlichkeit

Ich danke Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für die Reaktionen zu meinem gestrigen inneren Monolog über den traurigen Gottesdienstbesuch. Es besteht indes keinerlei Grund zur Sorge, ich könnte in eine Depression fallen oder einen anderen psycho-hygienischen Schaden nehmen. Weil ich meine Zeit gegenwärtig zu verbringen trachte, fahren mir Erlebnisse wie die Messe in Feldbach manchmal tiefer ein als anderen Menschen. Genau aus dem gleichen Grund kehre ich aber auch schnell wieder an die Oberfläche des Lichts und der Freude zurück. Gestern reichte dafür ein feiner Illy-Cappuccino und das herzliche Lächeln von Lisa, die ihn mir serviert hat.

Um meinem schlechten Gewissen, Sie mit meinen Betrachtungen möglicherweise runtergezogen zu haben, entschieden entgegenzuwirken, erzähle ich Ihnen heute von zwei speziellen Begegnungen. Beiden ist große Herzlichkeit gemein, die wir alle in uns tragen. Leider meinen viele Menschen, nicht die Zeit, die Gelegenheit oder die Kraft zu besitzen, damit sie sichtbar wird. Diesen Genossen und Genossinnen (manchmal darf man auch den Herren den Vortritt lassen, und sei es nur um des Zeilenumbruchs willen) meiner Art verrate ich jetzt ein Geheimnis: Sie müssen gar nichts besitzen. Augen auf, Herz auf, und die Herzlichkeit bahnt sich ganz von selbst ihren Weg von unseren Seelen hinaus in die Welt, ins Leben.

Liebe Herzlichkeit!

Vielleicht wunderst du dich darüber, einen Brief von mir zu bekommen, weil du meist ein Leben im Verborgenen führst. Das jedenfalls möchte man glauben, wenn man durch den Tag wandert: verbitterte, harte, traurige Gesichter, wohin man schaut.

In Wirklichkeit bist du überall! Es braucht nur ein bisschen Achtsamkeit, dich zu entdecken. Dabei hilft auch, mit deiner kleinen Schwester, der Herzensbildung, befreundet zu sein. Und noch etwas ist wichtig: die Erkenntnis, dass du nur in den Menschen steckst, niemals in den Dingen.

Heute schreibe ich dir aber nicht um zu philosophieren. Vielmehr möchte ich mich bedanken. Du hast dich in den letzten Tagen aus der Deckung gewagt und mir zweimal ganz offen deine Aufwartung gemacht, auf völlig verschiedene, wunderbare Art und Weise. Ich bin noch immer voll davon geflasht, wie es im modernen Begeisterungssprech so schön heißt.

In der ersten Begegnung warst du mit einem kleinen Buben unterwegs. Gemeinsam wanderten wir über eine Almwiese. Wie selbstverständlich bewegte sich das Kind meiner Geschwindigkeit angepasst und beobachtete mich dabei genau. Als wir zu einer abschüssigen Stelle kamen, sagte der etwa Achtjährige: „Hier kann es rutschig sein. Soll ich dir helfen?“

Jenes reine, kindliche Angebot durchflutete mich so wohltuend, dass ich für Sekunden keine Antwort fand. Seine 25, vielleicht 30 Kilo würden niemals ausreichen, um mich im Fall meines sprichwörtlichen Falles vor einer ungewollten Landung im Gras zu bewahren. Und doch war seine Hilfsbereitschaft ernst gemeint – das Kind würde zweifellos eingreifen und am Ende über sein Scheitern bitter enttäuscht sein.

„Sehr lieb von dir, aber ich schaffe das schon“, gab ich zurück, als ich sicher sein konnte, meine Stimme würde nicht mehr zittern vor Rührung. Wir gingen weiter einträchtig nebeneinander her bis zu unserem Ziel, einer Holzbank. Der Bub, gegenwärtig wie es nur Kinder sein können, erzählte von seinen Ferienerlebnissen. Und ich erfreute mich mit dir, die du mit uns auf der Bank Platz genommen hattest, an diesem beständigen Strom von Glück.

Ein paar Tage später betrat ich unweit meines Heimatortes ein kleines Geschäft, um eine Reparatur in Auftrag zu geben. Die Angestellte ist wohl eng mit dir verbandelt, denn kaum jemand sonst beschenkt meine Gegenwart stets mit einem derart offenen und anziehenden Wesen.

Als sie sich nach einem fröhlichen „Sekunde, ich hab’s gleich!“ mir zuwandte, sah ich ein großes weißes Pflaster an ihrer linken Wange; die Haut rundum war gerötet. Gleich darauf bemerkte ich noch etwas anderes, das ich ohne die Entstellung bestenfalls zur Kenntnis genommen hätte: Du bist neben ihr gestanden und hast ihre ganze Gestalt erleuchtet – am meisten ihr Gesicht.

Positive, meine Seele nährende Energie, wie ich sie lange nicht erleben durfte, erfüllte den Raum. Sie begann bei den strahlenden Augen der jungen Frau und ging in ein das ganze Leben umarmendes Lächeln über, als sie mich begrüßte und wir in aller Kürze das Geschäftliche erledigten. Ein Gefühl, als sei ich in diesem Moment der wichtigste Mensch für sie, ließ Erinnerungen an wertvollste Momente in meinem Leben auferstehen. Mit einem Mal war alles leicht, richtig und gut. Ausreden, verschämte Blicke, falsches Mitleid – nichts davon kam auch nur in die Nähe eines konkreten Gedankens.

„Was ist dir passiert?“, fragte ich deshalb ohne jede Angst, einen Fehler zu machen.

„Ein Abszess“, erwiderte sie leichthin; Freundlichkeit und Lebensliebe verminderten sich dabei um keinen Deut. „Aber eigentlich ist es der Ausdruck von etwas, das ich noch nicht annehmen kann.“

In diesem Augenblick hast du mir eine der wichtigsten Lektionen erteilt. Du bist nur in Menschen, die ohne jede Einschränkung ehrlich sind – zu anderen, aber vor allem zu sich selbst. Diese Ehrlichkeit braucht kein Versteck, auch keine Masken aus Stolz oder Arroganz. Durch dich konnte die junge Frau klar und ohne Scham auf einen Teil ihres Seins schauen, der noch Heilung nötig hat.

Für all das möchte ich dir danken. Ich freue mich schon sehr auf unsere nächste Begegnung.

Von ganzem Herzen, Der Kernölbotschafter

Erkenntnis des Tages: Es sind die kleinen Freuden, die unsere Lebendigkeit fühlbar machen. Eine gute Nachricht von einem Freund; das Lächeln eines Fremden, der dich mit einer aufmunternden Handbewegung aus der Seitenstraße einbiegen lässt; der gerade frei werdende Lieblingsplatz im Stammcafé. In diesen Momenten lebt die Herzlichkeit, die sich niemals aufdrängen wird, aber sehr gerne von uns finden lässt. Zum Beispiel im Anblick des Bären Archibald, der in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa sitzt. Als ein Geschenk meiner verstorbenen Zwillingsschwester Barbara erinnert er mich immer an das Leuchten meines inneren Kindes.

Zitat des Tages: „Aber die grandiose Nachricht ist … mein zweiter Sohn ist Vater geworden!“ (Natürlich soll auf die großen Freuden nicht vergessen werden!)

Song des Tages: Menschenjunges (Mit Reinhard Mey wollen wir das neue Leben auf der Welt willkommen heißen. Es weiß nichts von Señora Corona, hört aber vielleicht einmal die Geschichte, wie die große Kraft, Kreativität und Willensstärke anderer Menschen sie überwunden haben.)
https://www.youtube.com/watch?v=OW4uTscdPYc

Feder

 

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