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EM-Blog II: Das Privileg Gesundheit (13.6.2021)

Wann definieren wir unsere grundlegenden Werte neu? Zumeist doch nur, wenn uns ein unvorhergesehenes Ereignis diese Werte mit überdeutlicher Wahrheit bewusst macht und sie gleichzeitig infrage stellt – unabhängig davon, ob wir vorher schon einmal darüber nachgedacht haben oder nicht.

Dieses Ereignis trat gestern vor den Augen der ganzen Welt ein, in der 43. Spielminute der Begegnung zwischen Dänemark und Finnland. Der Däne Christian Eriksen kollabierte auf dem Spielfeld, war bewusstlos und musste reanimiert werden. Spieler, Betreuer und Fans reagierten betroffen; einige weinten, während der 29jährige Profi minutenlang von Notärzten behandelt wurde. Erste Entwarnung brachte ein Foto, das Eriksen beim Abtransport ins Krankenhaus mit offenen Augen und leicht angehobenem Kopf zeigte; den Angaben seines Trainers bei der Pressekonferenz zufolge, war sein Zustand stabil.

Auf Wunsch der Spieler beider Mannschaften und auch von Christian Eriksen selbst wurde das Spiel fortgesetzt und endete mit einem 1:0-Sieg der Finnen, der mich frappant an die Spiele Griechenlands bei deren EM-Titel 2004 erinnerte. Starke Verteidigung, das nötige Glück und ein einziger Konter, der zum entscheidenden Treffer abgeschlossen wird. Der KB und ich sind gespannt, ob die Nordländer bei ihrer EM-Premiere einen ähnlichen Lauf bekommen wie die Söhne Hellas unter ihrem famosen Trainer Otto Rehagel, dem nach dem Turniergewinn sofort der Ehrentitel Rehakles verliehen wurde.

Sämtliche Kommentatoren bewerteten das Ergebnis als Nebensache. „Wir haben ein Spiel verloren, aber ein Leben gewonnen“, stand in dänischen Medien zu lesen. Wann immer eine derart öffentliche Umkehrung von Werten erfolgt, stellt sich mir die Frage, warum Menschen immer einen Schock brauchen, um tiefgreifende Neubewertungen ihres Lebens vorzunehmen. Nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center 2001 ging ein Ruck der Solidarität durch ganz Europa, der bis in den persönlichen Umgang hineinwirkte. Und als uns die Corona-Pandemie zur Distanz zwang und zum Schutz gefährdeter Personen aufrief, entdeckten viele Leute ihre Hilfsbereitschaft, gingen für betagte Nachbarn einkaufen oder boten andere Dienste an.

Warum sind diese kleinen Zeichen der Menschlichkeit, diese Beweise des Einander-zugetan-Seins nicht in unser Denken, Reden und Tun eingeschrieben wie Atmen, Essen und Schlafen? Dass unser Leben als Gesellschaft, als Spezies nur gemeinsam gelingen kann, wissen wir längst. Warum die meisten erst im Angesicht des Todes oder einer noch größeren Katastrophe danach handeln, bleibt für mich eines der großen Mysterien unseres Daseins.

Besonders irritierend ist die Tatsache, dass viele Personen die eigene Gesundheit als selbstverständlich betrachten. Völlig falsch; in Wahrheit ist sie ein Privileg, das es zu bewahren und beschützen gilt. Mir ist klar, dass meine persönlichen Lebensumstände von Geburt an per se zu einer anderen Sichtweise führen mussten. Doch warum erkennen Leute den immensen Wert eigener Unversehrtheit nur, wenn sie Gefahr laufen, ihn zu verlieren? Hierzu ein wohlbekannter Satz „Nach einem Schlafanfall / Herzinfarkt / schweren Verkehrsunfall hat dieser Mensch sein Leben völlig umgestellt.“ Brauchen wir tatsächlich eine lebensgefährliche Situation, einen derart heftigen Wink mit dem Betonpfahl? Warum reichen die Chronikseiten dafür nicht aus? Warum sind uns die Lebensbeispiele von Freunden und Bekannten keine ausreichende Warnung? Ich habe keine Antwort darauf.

Finnland feierte den ersten Auswärtssieg gegen Dänemark seit – halten Sie sich fest – 1949. Dieses Ergebnis nennt man zurecht eine Sensation. Als solche wurde von manchen auch das menschliche und freundschaftliche Verhalten aller bezeichnet, die gestern in Kopenhagen Zeugen von Christian Eriksens Kampf ums Weiterleben wurden. Wieder falsch; Verbundenheit und Mitgefühl sollten in unserer Gesellschaft die Regel sein. Nicht die Ausnahme.

Lebensweisheit des Tages: „Quäle deinen Körper, sonst quält er dich!“ Christian Schiester, Extremläufer

Video des Tages: The Show Must Go On Davon sang auch Freddie Mercury, legendärer Frontman der britischen Rockband Queen, kurz vor seinem viel zu frühen Tod. Wenn wir unsere Freude am Spiel, an der Kunst, an unserer Art zu leben nicht mehr ausdrücken können, sei es aus Angst oder Zwang, dann haben wir verloren. Aber bis dorthin geht es immer weiter.
https://www.youtube.com/watch?v=t99KH0TR-J4

Feder