
EM-Blog I: Mein Mutterland des Fußballs (12.6.2021)
Irgendetwas ist heuer anders. Wenn ich an frühere Fußball-Großereignisse zurückdenke, fallen mir Wochen der Vorfreude ein, dazu die nötige Fernsehplanung sowie meine meist zum Scheitern verurteilten Versuche, die Mannschaftsaufstellung für das erste Spiel der Österreicher zu erraten. In diesem Jahr dominieren medial politische Unappetitlichkeiten. Weiters die Frage, ob diese unlustige Pandemie uns nur eine Verschnaufpause gönnt oder sich doch bequemt zu verschwinden.
Doch plötzlich war er da, der 11. Juni 2021. Und mit ihm der erste Spieltag der Fußball-Europameisterschaft 2020, die trotz ihrer Verschiebung noch immer so heißt. Wohl deshalb, damit schlecht spielende Mannschaften nachher behaupten können, dass sie vor einem Jahr definitiv besser gewesen wären.
Obwohl sich viele Fans über den Auftakt freuen, bleiben Restzweifel. Ist es wirklich notwendig, bei noch immer bestehen Reisebeschränkungen ein Fußballturnier in elf europäischen Ländern zu veranstalten? Wie wird die Stimmung sein, wenn die Stadien höchstens zu einem Viertel gefüllt werden dürfen? Was passiert, falls es zu einem großen Krankheitsausbruch kommt?
Für die Überlegung, ein turniererprobtes Land mit mehreren auf kurzen Wegen erreichbaren Sportstätten mit der Austragung zu betrauen, hätte es gute Argumente gegeben. Die programmierten Veranstalter haben jedoch Vorbereitungen und damit Kosten auf sich genommen; in diesem Sinne halte ich es für richtig, den ursprünglichen Plan beizubehalten. Alle anderen Unsicherheiten wird man abwarten und danach entsprechend handeln müssen.
Doch genug jetzt. Ab sofort verblasen wir die Trübsal, beenden die sorgenbeladene Suderei und verbannen alle aus unserem Freundeskreis, die unter Kultiviertheit nur ihre eigenen Ängste verstehen. Jetzt geht's loo-oos! Und um nicht gleich wieder bei diesen Ängsten zu landen, schreibe ich im ersten Blog nicht über Österreich, sondern über eine Mannschaft der mein Herz fast so sehr gehört wie Rotweißrot: la Squadra Azzurra!
Der italienische Fußball ist in den letzten Jahren ein bisschen aus dem Fokus geraten. Zu viel Geld wird in die englische Premier League gesteckt, zu viele Österreicher spielen in Deutschland, und zu selten erreicten Klubs unseres südlichen Nachbarlandes ein Endspiel oder wenigstens ein Halbfinale. Doch nach dem gestrigen Sieg über die Türkei, der eindrucksvoller nicht hätte sein können, wage ich eine Prognose: Das Semifinale ist vielleicht noch nicht das Ende der grünweißroten Fahnenstange.
In dieser Mannschaft stimmte gestern alles: Die Abwehr mit Chiellini und Bonucci rackerte knochenhart wie in den besten Zeiten eines Cannavaro oder Nesta im Weltmeisterjahr 2006. Dem Mittelfeld mögen große Namen fehlen, doch Domenico Berardi lenkte das Spiel mit ebenso feiner Klinge wie einst Andrea Pirlo. Und die beiden Stürmer Lorenzo Insigne und Ciro Immobile wirbelten wie ihre großen Vorgänger Paolo Rossi, Pippo Inzaghi und Roberto Baggio. Mein italophiles Fußballherz jubelte in ähnlich hohen Tönen wie der selige Luciano Pavarotti bei seiner Leib-und-Magen Arie "Nessun dorma". Nein, geschlafen haben die Azzurblauen gestern wahrlich nicht!
Natürlich werden die Mannen aus dem bel Paese auf stärkere Gegner als Erdogans Truppe treffen. Aber die Inbrunst, mit welcher alle Spieler bei der ungeliebten Hymne Fratelli d'Italia mitgesungen haben, sollte anderen Mannschaften wohl eine Warnung sein: Seht unsere Leidenschaft, wie wir um den Sieg kämpfen werden! Mein Mutterland des Fußballs (egal wie oft die Engländer etwas anderes behaupten) ist dort angekommen, wo es hingehört: in der Favoritenrolle. Schon der bekannte Fußballphilosoph Julius Cäsar sagte: "Veni, vidi, vici!" Und der war bekanntlich Italiener.
Fußballweisheit des Tages: Nach dem Spiel ist vor der Satire. (Der Kernölbotschafter)
Video des Tages: Nessun dorma (Der italienische Tenor Andrea Bocelli hat die berühmteste Arie aus Puccinis Turandot bei der Eröffnungsfeier eindrucksvoll dargeboten. Ich habe mich jedoch für den letzten öffentlichen Auftritt von Luciano Pavarotti entschieden. Dieser fand 2006 statt, ebenfalls in Italien und ebenfalls bei einem großen Sportereignis.)
https://www.youtube.com/watch?v=rxxHvW0oNpU

