Der Kernölbotschafter trifft Señora Corona

Viel mehr als ein Tagebuch

 

Tomaselli

 

6. Mai 2020: Kaum zu erwarten

Noch neunmal schlafen. Ich zähle die Tage wie ein Kind, das auf Weihnachten wartet. Für mich wird es sein wie Heiliger Abend, Ostern und Geburtstag zusammen. Den Moment, das weiß ich heute schon, werde ich festlich zelebrieren. Ich werde mich behutsam hinsetzen, jedes Bild um mich herum aufnehmen. Wenn Lisa, Ali oder Anita kommen, werde ich breit lächeln aufsetzen, sie herzlich begrüßen und sagen: „Einen Cappuccino mit Milchschaum, bitte!“ Lisa, Ali oder Anita werden, ebenfalls lächelnd, antworten: „Gerne, Hannes.“ In diesem Moment wird uns bewusst sein, dass wir einen kleinen Teil unserer gemeinsamen, wertvollen, unser aller Leben bereichernden Realität wieder zurückgewonnen haben: einen Besuch im Kaffeehaus.

Die Zeit bis zum 15. Mai, wenn auch Cafés, Restaurants und andere Gaststätten wieder öffnen dürfen, vertreibt sich ein Kaffeehausmensch wie ich mit dem Schwelgen in Erlebnissen an diesen Orten des Genusses, der Kommunikation, des glücklichen Zeitvertreibs. Ein besonders schönes trug sich vor gut drei Jahren im Café Castello am Feldbacher Hauptplatz zu.

So süß das Leben

Nicht lange, nachdem ich mich in der Vormittagssonne an einem Tisch vor dem Castello in Feldbach niedergelassen habe, kommt ein Mann mit einem vielleicht zweijährigen Mädchen zum Nebentisch. Der Wind ist kühl, deshalb zieht er dem Kind die Hello-Kitty-Haube zurecht und hilft ihm mit zärtlicher Bestimmtheit, sich auf den Stuhl zu setzen. Der Mann bestellt einen Kaffee für sich und für die Kleine eine Bananenmilch.

Sie schaut sich interessiert um, begegnet meinem Blick, lacht, schaut wieder weg. Gleichzeitig mit meinem Cappuccino serviert Lisa auch den Kaffee für meinen Tischnachbarn. Er hat noch nicht nach dem kleinen Milchkännchen gegriffen, da streckt das Kind schon den rechten Arm aus und fordert mit einem sehnsüchtigen „Mein!“ den Keks, dessen Silberfolie verheißungsvoll in der Sonne glitzert. Der Mann hält der Kleinen das verpackte Zuckerwerk hin, bis sie es mit beiden Händen umschlossen hat und mit einem zufriedenen Glucksen ganz nah an ihr Gesicht führt.

Lisa bringt die Bananenmilch, aber das Kind ist völlig in die Herausforderung versunken, durch die Silberfolie an den Keks zu kommen. Immer wieder ziehen die kleinen Finger an den Rändern, und immer wieder rutschen sie ab. Sie drehen das Rechteck hin und her, versuchen es erneut. Der Mann bietet fürsorglich seine Hilfe an, doch diese wird mit einem protestierenden Laut, der deutlich nach „Allein!“ klingt, ausgeschlagen.

Endlich gelingt es ihr, der Folie einen ersten Riss beizubringen. Geschickt fährt sie mit ihrem winzigen rechten Zeigefinger in die entstandene Öffnung und erweitert sie so lange, bis der Keks befreit ist und dieser grandiose Erfolg mit einem glücklichen „Jaaaaaaaa!“ gefeiert werden kann.

Genüsslich verspeist das Kind die kleine Süßigkeit und greift erst, als der Keks verputzt ist, nach dem nicht minder süßen Getränk.

Diese Beobachtung, die Zeugnis davon gibt, mit welch reiner Konzentration und Hingabe sich Kinder einer Aufgabe widmen können, hält mich gefangen. Für sie gibt es keine Ablenkung, durch nichts und niemanden. Der zusätzliche Reiz, mit etwas Süßem belohnt zu werden, verstärkt ihre Bemühungen nur noch. Schlechtes Gewissen, das bei uns Erwachsenen oft aus dem Gedanken Das sollte ich eigentlich gar nicht essen! entsteht, ist ihnen vollkommen unbekannt.

Ein zweites, in kräftige Farben getauchtes Bild entsteht in mir. Weil niemand in meiner Familie Zucker zum Kaffee nimmt, wir jedoch ausgesprochene Kaffeehausmenschen sind und auch dem namensgebenden Getränk zusprechen, sammelt sich monatlich eine große Anzahl an Zuckerpäckchen zuhause an. Früher hat sich meine Großmutter von Zeit zu Zeit hingesetzt und deren Inhalt in eine Schüssel geleert. Ein bunt bedrucktes Behältnis nach dem anderen riss sie auf und schüttelte die weißen Kristalle heraus. In meiner Erinnerung war sie dabei ähnlich selbstvergessen wie das kleine Kind heute.

Zu gerne würde ich sie fragen, woran sie bei diesem Tun gedacht hat. An Tage, als es beinahe unmöglich war, Zucker oder Kaffee zu bekommen? An Begegnungen, die mit dem Teilen wertvoller Lebensmittel begonnen haben? An das erste Eis ihres Lebens?

Heute öffnet mein Vater die Zuckerbriefchen zuhause, irgendwann werde ich selbst es machen. Ich hoffe, in meiner Zukunft dieser Tätigkeit die gleiche Wertschätzung entgegenzubringen, wie es jene getan haben, die vor mir waren.

So süß ist das Leben, wenn wir verstehen, dass wir es mit aller Hingabe führen müssen, zu der wir fähig sind. Wie das kleine Mädchen neben mir niemals aufgibt, bis es an den Keks kommt, sollen auch wir jeden Tag neu unsere Aufgaben annehmen und voll Konzentration erfüllen. Die auf uns wartenden Belohnungen sind ohne Zahl. Meist beginnen sie mit einem hellen Lachen und einer Süßigkeit.

Erkenntnis des Tages: Es sind die kleinen Freuden, die unser Leben über die Maßen bereichern und es lebenswert machen. Das klingt wie aus dem Poesiealbum, ist jedoch die schönste Wahrheit. Wer nicht daran glaubt, scheitert an der wichtigen und doch immer wieder schwierigen Aufgabe, diese Freuden für sich zu erkennen und zu genießen. Denn einen weiteren Spruch habe ich als Tatsache verinnerlicht: Wer nicht genießen kann, wird ungenießbar!

Zitat des Tages: „Ich hole mir nur schnell ein Essen beim Kung Fu!“ (Meine Cousine Ruth freut sich wie viele andere, dass unser Asia-Imbiss-Restaurant Mr. Chen To Go wieder aufgesperrt hat.)

Lied des Tages: In einem kleinen Café in Hernals (Die Kaffeehäuser sind einer der vielen Gründe, Wien zu besuchen. Ich war schon viel zu lange nicht mehr beim Demel oder im Landtmann.  Hier singen Katharina Winand und Andreas Ertl diesen Klassiker von Hermann Leopoldi.)
https://www.youtube.com/watch?v=J_XO86D_YNE

Feder

 

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