Der Kernölbotschafter trifft Señora Corona

Viel mehr als ein Tagebuch

 

Salzburg

10. Mai 2020: Ein perfekter Tag

Wie sieht Ihr perfekter Sonntag aus? Gibt es diesen in Zeiten von Señora Corona überhaupt? Welches Bild steht vor Ihren Augen, wenn Sie von einem solchen Tag träumen? Wandern Ihre Gedanken in die Zukunft der in die Vergangenheit?

Ich bin dankbar, schon viele perfekte Sonntage erlebt zu haben. Und voller Hoffnung, dass eine große Zahl davon noch vor mir liegt.

Als ich den Herrgott allein ließ

Ein Sonntag im August, 9 Uhr morgens. Bei strahlendem Sonnenschein betrete ich einen der schönsten Orte Salzburgs, darauf vertrauend, dass mir mein Glück so hold ist wie das herrliche Wetter. Ja, er wartet auf mich: ein Tisch auf dem Balkon des Café Tomaselli; erste Reihe fußfrei, sprichwörtlich.

Mit einem dankbaren Seufzer, der auch die Vorfreude auf die folgende Stunde einschließt, lasse ich mich auf dem Stuhl nieder. Das Lachen erobert ganz von selbst mein Gesicht. An diesem Platz ist mir das ohnehin nie schwer gefallen – da stellt meine Seele ganz von selbst ihren Modus auf Baumeln. Unter mir breitet sich der Alte Markt aus, um die Ecke blinzeln der Dom und die Neue Residenz. Noch ist es ruhig, doch schon bald wird eine ganz besondere Vorstellung beginnen: Straßentheater, spontan und lebensecht.

„Guten Morgen! Was darf es sein, der Herr?“

Der Kellner, ins Inventar des Hauses eingeschrieben wie der Holzfußboden und der Zeitungsstock, blickt wartend auf mich herab. Auch ihm scheint die Freude über den schönen Tag zu gelingen, was ich ihm bei dem Stress, den er noch haben wird, hoch anrechne.

„Eine Melange bitte“, gebe ich meine übliche Bestellung auf, füge zur Feier meines inneren und äußeren Glücks noch hinzu: „Könnten Sie die Dame mit dem Kuchentablett vorbeischicken?“

„Beides kommt sofort, bitte sehr“, gibt er mit typischer Tomaselli-Noblesse zurück und geht zum nächsten Tisch.

Ich geniere mich nicht für meinen nächsten Dankbarkeitsseufzer und greife zur Tageszeitung. Noch beim Streifen der ersten Überschriften lasse ich mich gerne ablenken: Eine große Touristengruppe asiatischer Herkunft, das schließe ich aus der hohen Zahl an gezückten Fotoapparaten und bunten Sonnenschirmen, nimmt die Fläche zwischen den Cafés Fürst und Tomaselli in Beschlag. Ergriffen lauschen die Frauen und Männer älteren Semesters, von denen einige wohl ihr ganzes Leben lang für diese Reise gespart haben, ihrer Führerin. Offenbar ist der Stadtrundgang hier zu Ende, denn die Dame, aus deren Rucksack ein langer Stab samt Fähnchen aufragt, verbeugt sich und erntet großen Applaus.

Ich gehe gerne in die Welt, fällt mir bei dieser Szene ein. Eine Stadt Heimat nennen zu dürfen, in die alle Welt zu Besuch kommt, ist eines der schönsten Lebensgeschenke.

„Achtung bitte!“ Gibt es Schöneres, als vom Anblick einer verheißungsvollen Kuchenauswahl aus einem Tagtraum gerissen zu werden? Am liebsten würde ich von allem kosten, doch auch die Entscheidung für meine Favoritin macht Freude: eine Himbeertorte mit Vanillecreme. Der erste Bissen bringt mich dem Himmel wieder ein kleines Stück näher.

Inzwischen ist der Balkon voll besetzt. Zwei junge Italienerinnen scherzen mit dem Kellner auf Englisch, ein spanisches Ehepaar kann sich nicht zwischen dem klassischen und dem Wiener Frühstück entscheiden, und ein amerikanischer Bub quengelt, weil er seiner kleinen Schwester den Vortritt auf dem Schoß seiner Mutter überlassen muss. Auch auf dem Alten Markt wechseln die Bilder in so rascher Folge, dass die Zeitung längst unbeachtet neben mir liegt. Der Silbermann wartet regungslos auf Bewunderer; ich muss lachen, als er doch zuckt, aus seinem Umhang ein Handy zieht und hineinspricht – ganz Mensch, nicht länger Statue. Taxis bahnen sich mühevoll ihren Weg durch den immer dichter fließenden Strom an Menschen. In Tracht und klassischem Stil gewandete Personen, die zielstrebig zur Sigmund-Haffner-Gasse gehen, künden vom nahen Beginn der heutigen Festspielmatinee.

Zum wahrhaften Genuss gebührt der Torte meine ganze Aufmerksamkeit. Sohin verlasse ich für Minuten die vielen Vorstellungen um mich herum und verzehre jede gelierte Himbeere, jeden Tupfen Creme und jeden Krümel Blätterteig mit großer Hingabe. Ohne Kaffeekenner zu sein, ist die Melange im Tomaselli für mich die beste der Stadt. Auf alle Fälle aber ist sie ein hervorragender Kuchenbegleiter.

Als das Glockenspiel sein Geläut zur vollen Stunde erklingen lässt, spüre ich Enttäuschung, weil ich mich bald auf den Weg machen muss. In einer halben Stunde beginnt die zweite Sonntagsmesse in der Franziskanerkirche, die ich üblicherweise vor dem Kaffeehaus besuche. Doch heute war der Morgen zu schön. Danach wäre es bestimmt zu heiß, und ich würde ohnehin keinen Platz finden.

Eine gute Viertelstunde habe ich noch; Zeit genug für einen Johannisbeersaft und die Rückkehr zur Freiluftdarbietung am Alten Markt.

Zum ersten Mal fällt mir heute auf, in welch vielfältiger Weise sich die Leute über den Platz bewegen. Vor einer Stunde hatten die sportlichen Läufer noch freie Bahn, jetzt müssen sie Haken schlagen, um vor Staunen stehengebliebenen Touristen auszuweichen. Pärchen schlendern Hand in Hand dahin; Herzen und Augen verbannen die Richtung ihrer Schritte ins Unbedeutende. Kinder spielen Abfangen und lassen ihre Eltern beim Versuch grandios scheitern, dies kraft ihres Erziehungsamtes zu unterbinden. Die Rikscha-Fahrerin tritt stramm in die Pedale, auch wenn sie deshalb die Erläuterungen zur Geschichte der Stadt der fülligen Frau in ihrem Fahrzeug etwas kurzatmig darbringt. Nicht erst seit heute kennt sie wohl die wahre Bedeutung des Werbespruchs Servas die Wadln. Und immer wieder Reisegruppen aus aller Herren Länder: große, kleine, langsame, schnelle, laute, leise; die Männer cool bebrillt oder schlecht beschuht, die Damen tief dekolletiert oder züchtig verschleiert.

Es ist Sonntag, ein freier Tag, Urlaubszeit. Diese Deutung des friedlichen Bildes vor mir mag berechtigt sein wie auch der Einwand, auf einer reichen Insel der Seligen sei es leicht, über die schlechten Seiten der Welt hinwegzusehen. Trotzdem lasse ich mir meine Erkenntnis angesichts dieses wunderbaren Stelldicheins der Menschen nicht nehmen: Für alle ist Platz.

Viertel nach zehn – höchste Zeit, dem Kellner zu winken. Aber mein Wunsch zu verweilen ist groß, unbezwingbar. Die Zeit hier ist meine Belohnung für jede Mühe: am schönsten Platz zu sitzen, in meiner Wahlheimat, wo ich mir das Leben über Jahre erschlossen, hart erkämpft, mit Ausdauer erarbeitet habe. Es gab Stunden dunkler Einsamkeit, und mancher Gedanke riet mir zur Rückkehr, doch die Überzeugung, dass ich genau diesen Ort schmerzlich vermissen würde, hat mich davon abgehalten, dem Drängen zu folgen.

Ich sehe das strenge Gesicht des alten Franziskaners vor mir, der oft den Spätgottesdienst leitet, und fürchte beinahe, er wäre ob meines Versäumnisses erzürnt. Doch die Sonne lacht so hell wie die italienischen Freundinnen; die Kirchtürme blitzen, als hätte der Herrgott selbst ihnen soeben einen Ring aus Diamanten aufgesetzt. Da weiß ich, dass ER nicht zürnt, sondern bei mir am Tisch sitzt.

Der Kellner kommt mit gezückter Geldtasche auf mich zu. Ich schüttle heiter den Kopf.

„Noch eine Melange bitte.“

Aus: „Was Sie schon immer von einem KRÜPPEL wissen wollten!“, Weishaupt Verlag, Gnas 2016

Erkenntnis des Tages: Ist mir leider entfallen. Ich bin trotz spannendem Hörbuch im Liegestuhl eingeschlafen. Aber am Sonntag darf ich das.

 Zitat des Tages: „Für einen Veganer einkaufen ist nicht leicht, gell?“ (Mein Neffe Jakob wusste genau, warum er diese Frage stellte. Die für seine Lebensmittel notwenige Tour de BILLA wird noch Gegenstand in diesem Periodikum sein.)

Song des Tages: Perfect Day (Lou Reed and Friends. Und jetzt lasst mich weiterschlafen!) https://www.youtube.com/watch?v=Su6i9OPJutU

Feder

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