Der Kernölbotschafter trifft Señora Corona

Viel mehr als ein Tagebuch

 

Love and Hate Picasso(Bild: Love and Hate, Pablo Picasso)

 

4. Mai 2020: Liebe und Hass

Vor knapp drei Wochen schickte meine in die USA ausgewanderte Schulfreundin Stefanie, die Sie aus zwei Tagebucheinträgen schon kennen, wieder einen sehr berührenden Text. Darin schreibt sie, wie stark sich die Coronakrise auf den persönlichen, ganz privaten Bereich auswirkt – manche Dinge positiv, andere im negativen Sinne. Und dann gibt es noch jenes große Ganze, das wir gerne aus dem Blick verlieren.

Seit Stefanies Mail bei uns eingetrudelt ist, verspricht mir der Kernölbotschafter immer wieder, dass er sich um eine literarisch wertvolle (das ist ihm ja ach so wichtig!) Übersetzung kümmert. Bis heute blieb es bei der heißluftigen Ankündigung, was mich aber nicht besonders wundert. Diese Gau … äh … Schriftstellerkollegen der leichten Muse sind immer schnell vorn dabei, wenn es um Halli Galli, Ramba Zamba und noch viele andere komödiantische Einlagen geht. Artet aber etwas in echte Arbeit aus, bastelt er lieber stundenlang an einem Video, so wie gestern.

Wäre der KB heute in der Redaktion, hätte er auch keine Zeit. Er würde sagen: Mein lieber HG, ich war gestern bis nach 23 Uhr hier, um die einzigartige, tiefschürfende Kombination aus Text, Video und gruppendynamischer Arbeit für unser Tagebuch fertigzustellen. Weil mir das so außerordentlich erfolgreich gelungen ist, habe ich mir heute einen freien Tag verdient! Und weg wäre er gewesen.

Also habe ich mich nach einem gottergebenen Seufzer und der Erkenntnis, nicht einmal schwierige Kollegen seien unnütz (sie dienen zumindest noch als warnendes Beispiel!) heute selbst hingesetzt und die Übersetzung von Stefanies Essay angefertigt. Nach getaner Arbeit bin ich dankbar dafür. So groß unser aller Hoffnung ist, die Phase der pandemischen Bedrohung durch das Virus möge bald enden, so zeitlos sind die Worte meiner geschätzten Freundin.

Liebe und Hass in Zeiten von Corona

Nun ist es schon über zwei Wochen her, seit der Bundesstaat Michigan den Befehl „Bleib zuhause und bleib gesund!“ ausgegeben hat – und es ist noch immer notwendig, dem Befehl Folge zu leisten. Daraus wurde eine jener Phrasen, die ich vielen meiner Telefonate, eMails, ja sogar Geburtstagsgrüße anfüge. Wie bizarr das ist! Ich hoffe, an meinem Geburtstag (5. Oktober) wird alles vorbei und auch diese Phrase ein Teil der Vergangenheit sein.

In dieser Zeit begann ich, Aktivitäten und Dinge zu lieben, von denen ich zuvor nie geglaubt hätte, sie überhaupt zu mögen. Andererseits begann ich Dinge zu hassen, die mich früher nicht gestört haben.

LIEBE: Ich hätte nie daran gedacht, mir dreiminütige, lustige Videos anzuschauen, die ich früher einfach nicht witzig fand. Das war nie so meins, und ich sagte das auch den Leuten. Aber wenn mir jetzt ein solches Video von Freunden oder Familienmitgliedern zugeschickt wird, gehe ich davon aus, dass sie Sehnsucht nach Kommunikation und Verbundenheit haben.

HASS: Ich habe es immer gemocht, in einer Arbeitspause hin und wieder in die Sozialen Medien reinzuschauen. Diese Art der Verbindung hatte etwas – wie Smalltalk mit Reaktionen und kurzen Kommentaren. Nun machen Computerarbeit und ZOOM-Meetings einen Großteil meiner Zeit aus, und so wurde ZOOM zu meinem neuen Facebook. Ich sehe jemanden, seinen kleinen Ausschnitt, seinen Einzeiler in der Chatbox – das alles macht Facebook bedeutungslos.

HASS: Ich habe mir immer gerne gute Filme angeschaut. Jetzt hasse ich außer dem PC und meinem Mobiltelefon jeden zusätzlichen Bildschirm. Auch haben weder ich noch meine Augen die Geduld dafür.

LIEBE: Alles Dreidimensionale, das ich berühre, verändere und auseinandernehme, oder woraus ich etwas Neues schaffen kann. Zum Beispiel wird ein Stück Papier zu Kunst, sei es durch Origami oder mit verschiedenfärbigen Stiften. Oder nur dadurch, dass ich es ausschneide und auf etwas anderes draufklebe. Und ich liebe Bücher – ihr wisst schon, die altmodische Variante davon, die man durchblättern kann.

HASS: Kühlschrank und Speisekammer sind immer zugänglich. Ich kann jederzeit etwas essen – vorausgesetzt, ich habe meinen Einkauf erledigt.

LIEBE: Zuhause gekochtes Essen. Für mich zählt Kochen zu den kreativen Tätigkeiten. Das Experimentieren mit verschiedenen Geschmacksstoffen und Zutaten ähnelt dem Erschaffen eines Kunstwerks.

HASS: Dass ich meine Freunde nicht daheim empfangen darf, nicht mit ihren Kindern und Hunden spielen darf und vor allem, dass ich keinen geliebten Menschen umarmen darf!

LIEBE: Über Skype, ZOOM, FaceTime etc. wirklich mit Menschen in Verbindung treten.  Früher habe ich nur die übliche Geburtstagskarte geschickt, einen schnellen Geburtstagswunsch oder ein animiertes Bild. Oder ich habe einfach nur gefragt: „Wie geht es dir?“, und darauf die immer gleiche Antwort erhalten. Jetzt habe ich damit begonnen, mit Leuten über Bücher zu reden, die sie und ich lesen; über eine Idee, die wir faszinierend finden; über ein Rätsel, das ich nicht lösen kann; über Themen, mit denen ich mich früher nicht auseinandergesetzt habe.

Zwischen all dem Hass und der Liebe erkenne ich trotzdem, es geht mir gut. Kein Familienmitglied ist COVID-19 zum Opfer gefallen. Ich würde es wirklich hassen, wenn jemand, den ich liebe, daran sterben müsste. Also erkenne ich am Ende, dass nichts, worüber ich geschrieben habe, es wirklich verdient, geliebt oder gehasst zu werden.

Stimmen Sie mir zu?

16. April 2020, Michigan State University, Detroit, USA

 Stefanie
eine ausgewanderte Österreicherin,
Curriculum Development Director und
“Animateurin in Coronazeiten”
an der Graduate School of Michigan State University

Erkenntnis des Tages: Viele Menschen sind von der Coronakrise betroffen, aber nicht alle nehmen die damit einhergehenden Veränderungen bewusst wahr. Die vielleicht entscheidende Aufgabe, der wir uns stellen müssen, liegt im Reflektieren der Auswirkungen – vom Kleinen (dem persönlichen und privaten Bereich) bis zum Großen (in welche Richtung werden sich Gesellschaften, Staaten, Wirtschaftsräume und nicht zuletzt das Klima verändern?). Nur dann besteht eine Chance, die richtigen Schlüsse aus der Pandemie zu ziehen und unser Handeln neu auszurichten.

 Zitat des Tages: „Wollen Sie meinen Friseurtermin, gnädige Frau? Für hundert Euro gehört er Ihnen!“ (Meine Mutter erhielt heute vor dem Haarschneideinstitut ihres Vertrauens dieses geradezu unmoralische Angebot. Sie lehnte dankend ab – so dringend war es dann doch nicht.)

Song des Tages: The Times They Are A-Changin’ (Das einzig Beständige ist die Veränderung – das wusste Bob Dylan schon vor 56 Jahren.)
https://www.youtube.com/watch?v=90WD_ats6eE

Feder

 

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